Expressionismus

Ernst Ludwig Kirchner war die treibende Kraft der „Brücke“, jener Künstlergruppe, die er 1905 gemeinsam mit Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl in Dresden gründete.

Ihr 1906 in Holzschnitt gedrucktes Manifest begann voller Pathos: „Mit dem Glauben an Entwicklung an eine neue Generation der Schaffenden wie der Geniessenden rufen wir alle Jugend zusammen“ […] und am Ende des Brücke-Manifestes steht der inzwischen legendäre und meist zitierte Aufruf: „Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergiebt, was ihn zum Schaffen draengt“.

Heute gehören sie alle zu Klassikern der Kunstgeschichte. Die Werte ihrer Werke sind ins Unermessliche gestiegen, sie werden wie Aktien gehandelt und längst ist vergessen, dass Ernst Ludwig Kirchner in Dresden einst Ofenkacheln bemalt und diese für 50 Pfennig das Stück verkauft hat, wie der Kunsthistoriker Will Grohmann erzählt.

Vermutlich waren es genau diese Mischung aus Schaffensdrang und Leidenschaft, die den Sammler Peter Selinka früh auf die Künstlergruppe Brücke aufmerksam werden ließ.

Sein erster Kunstkauf war die Kaltnadelradierung „Liegender Mädchenkopf“ (1917) von Ernst Ludwig Kirchner, die Peter Selinka 1952 in elf Monatsraten zu 20,- DM bei einer Berliner Galerie abzahlte. Das Monatseinkommen des späteren Sammlers betrug damals 400,- DM, Kunstankäufe lagen also nicht unbedingt im Budget.

Der aus dem Riesengebirge stammende Otto Mueller war erst 1910 zur Künstlergruppe „Die Brücke“ gestoßen. Ihn, den Lyriker und Selbstbefrager unter den jungen Malern, schätzte Peter Selinka besonders und er war der Überzeugung, dass Otto Mueller lange Zeit unterbewertet gewesen sei.

Peter Selinka, der selbst aus dem Riesengebirge stammte, war Anfang der 1930er Jahre häufig zu Besuch bei Verwandten in Dresden, wo er damals noch Originale der inzwischen etablierten Brücke-Künstler bewundern konnte und regelrecht „Kunst-infiziert“ wurde, bevor diese ab 1933 von den Nazis verfemt wurden.

Selinkas Großvater hatte in Otto Muellers schlesischem Geburtsort Liebau eine Glasfabrik und war befreundet mit dem Dichter Gerhart Hauptmann, dem Förderer des Malers. „Meine Mutter hat mir von Otto Mueller und seinen Maler-Freunden erzählt“, erinnert sich Selinka, „das hat mein Interesse an der expressionistischen Kunst geweckt.“ Ursprünglich wollte er selbst Künstler werden. Doch der Vater konnte sich nicht durchringen, den Sohn zum Studium nach Wien gehen zu lassen. Zu groß war die Sorge, der Junge könne später, wie Selinka heute sagt, „in einer Dachkammer verhungern. So greift er eben als Geschäftsmann und Sammler in die Kunst- und Museumsgeschichte ein – wobei er sich gern diskret im Hintergrund hält.

(aus: Ruth Händler: Die Heimat des Sammlers ist der Expressionismus“, in: art-Magazin 07/96, S. 65)

Die Kunst der Brücke-Maler, ihre reduzierten Formen, der freie Umgang mit Farbe und ihre erklärte Abkehr von traditioneller Perspektive und akademischer Proportion faszinierten Peter Selinka und gaben ihm in den expressionistischen Bildern seine verlorene Heimat zurück.

„Ich bin verschiedentlich zu einer Steigerung der Formen gekommen, die zwar den naturwissenschaftlich gefundenen Proportionen widerspricht, die aber in ihren geistigen Beziehungen ausgeglichen und proportioniert ist. Köpfe habe ich oft im Verhältnis zu anderen Körperformen ins Ungeheure gesteigert, als einen Sammelpunkt aller Psyche, allen Ausdrucks“. (Karl Schmidt-Rottluff, in einem Brief an Gustav Schiefler, 1913)

Mädchen vor dem Spiegel, 1914. Schmidt-Rottluff, Karl. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Gerade Straße, 1910. Münter, Gabriele. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Auch in München gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Keimzelle der künstlerischen Erneuerungsbewegung. Franz Marc und Wassily Kandinsky brachten 1912 den Almanach „Der Blaue Reiter“ heraus. „Marc liebte Pferde und ich die Farbe Blau“, erinnerte sich Kandinsky rückblickend.

Als Gruppe stellten die Mitglieder des Blauen Reiters 1911 und 1912 gemeinsam in München aus. Ihre Kunst war geprägt durch die Kontakte zu Frankreich, vor allem zu den „Fauves“.

Gabriele Münter war seit 1902 Schülerin und bald auch die Lebensgefährtin von Wassily Kandinsky, bis dieser die Beziehung 1915 auflöste.

Münters „Gerade Straße“ von 1910 ist einer der Schätze in der Sammlung.

Peter Selinka hat dieses Bild bei Leonard Hutton in New York erstanden, wo er es im Ausstellungskatalog „German Expressionist: Paintings, Drawings, Watercolors, Sculpture, Leonard Hutton Galleries 1972/73) entdeckte. So war dieses Bild Ende 1980 erstmals wieder in Deutschland zu sehen, und zwar in der Städtischen Galerie Altes Theater in Ravensburg im Rahmen der Ausstellung: Expressionismus; Malerei und Grafik aus der Sammlung Peter Selinka.

Begleitet von kräftig konturierten Farbflächen führt eine Landstraße geradeaus in die Tiefe und endet an der Horizontlinie, wo die Bildfläche genau halbiert wird. Der Russe Alexej Jawlensky war zwischen 1908 und 1910 zu Besuch in Murnau und von den gemeinsamen Malstunden zehrte vor allem Gabriele Münter, was sie als „Fühlen des Inhalts“ beschrieb.

In einem Brief der Künstlerin an Kandinsky vom 7. November 1910 wird deutlich, wie sehr ihr diese Arbeit am Herzen lag.

Peter Selinka gelang es, die zitierte Original-Version der Geraden Straße zu erwerben und er erinnerte sich im Gespräch mit Dr. Gunter Thiem, dass zeitgleich zu Münter auch Fassungen dieses Motivs von Jawlensky und Kandinsky entstanden sind

Da ich für sehr gut halte die Studie Kocheler Gerade Straße, so will ich sie jedenfalls nach Moskau schicken. Da ich sie aber besser nicht machen kann, habe ich sie größer kopiert – so genau als möglich – aber die kl. Studie ist doch besser. Ich wollte sie aber doch nochmals haben. Gabriele Münter

(zit: aus Expressive Kunst Sammlung Selinka, Ausstellungskatalog Schloß Achberg, 1996, S. 106)

Liegende Frau, 1921. Kaus, Max. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Der leidenschaftliche Sammler Peter Selinka hatte ein untrügliches Gespür für Spitzenqualität. Es war nie die Spekulation, die ihn trieb, sondern immer seine Intuition, auf die er sich verließ. So kaufte er auch Werke von Max Kaus, einem Maler der zweiten Expressionisten-Generation.

Das Aquarell Liegende Frau – Turu von 1943 zeigt Gertrud, die Frau des Künstlers, im Sterbebett. Dieses Blatt  gehört zu einer Werkfolge, die der Kunsthistoriker Will Grohmann als „das Stärkste, was dem Maler gelungen ist“ bezeichnete.
Max Kaus hat Momente von Angst, Tod und Schönheit in diesem Blatt vereint. Heute ist es vielleicht eine Künstlerin wie Marlene Dumas, die sein Erbe antritt.

Jede Sammlung hat ihre Publikums-Lieblinge.
In der Sammlung Selinka ist Alexej Jawlenskys „Spanisches Mädchen“ das Bild mit der größten Strahlkraft, das auch mitunter als „die Monalisa Ravensburgs“ bezeichnet wird.

Der gebürtige Russe Alexej von Jawlensky traf 1911 Matisse in Paris. Der Einfluss des Franzosen zeigt sich vor allem in der schwarzen Konturlinie. Vermutlich war das Vorbild dieses Motivs der russische Tänzer Alexader Sacharoff, der auch für Jawlenskys Lebensgefährtin und Mäzenin Marianne Werefkin Modell gestanden hatte. Der Knick im rechten unteren Augenlid und die außergewöhnliche Farbwahl verliehen diesem Kopf eine sinnliche Melancholie, die auch über 100 Jahre nach der Entstehung noch spürbar ist.
Im Besitz der Sammlung Selinka befindet sich auch ein Plakat der Galerie Hans Goltz (München) aus dem Jahr 1912, welches das Spanische Mädchen als Motiv abbildet. Die Provenienz dieses Gemäldes ist außerordentlich, denn bevor es nach Ravensburg verkauft wurde, hing es im Büro des damaligen US-Vizepräsidenten Nelson Rockefeller. Auf Drängen seiner Frau musste sich Rockefeller von diesem Bild trennen, denn das „Spanische Mädchen“ löste bei der Gattin Eifersucht aus.
„Menschliche Gesichter sind für mich nur Hinweise, um in ihnen etwas anderes zu sehen: das Leben der Farbe erfaßt von einem Leidenschaftlichen, einem Verliebten“,  Alexej von Jawlensky

2 / aus: Karlheinz Schmid: Aktien, die aus dem Rahmen fallen, im Stern-Journal  09/1987