Als sich am 8. November 1948 im Café Notre Dame in Paris einige Maler und Schriftsteller aus Belgien, den Niederlanden und Dänemark trafen, um ein Manifest zu formulieren, war die Künstlergruppe CoBrA (Copenhagen, Brüssel, Amsterdam) geboren. Das Nachkriegs-Europa lag in Trümmern. Viele Geschichten und viele Leben waren vernichtet, der Blick zurück tat weh, der Blick nach vorne erforderte Mut.
Peter Selinka stieß eher per Zufall auf die Künstlergruppe CoBrA, als er 1975 in Paris in einer Ausstellung Bilder von Pierre Alechinsky entdeckte. Ein Brief an den belgischen Maler Alechinsky, der erst 1949 zur COBRA stieß, gibt genau die Beweggründe wieder, auf die es dem Sammler ankam:
„Als ich an einem kalten Tag im Februar 1975 einen Spaziergang in Paris machte, war ich schon lange Sammler. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges, fing ich unter Schmerzen und Entbehrungen an, Gemälde von Expressionisten zu sammeln. Viele der Objekte bezahlte ich in Monatsraten. Es sind Gemälde von Otto Müller, Emil Nolde, August Macke, Alexej Jawlensky, Ernst Ludwig Kirchner etc. dabei.
Le Cri, 1953. Appel, Karel. © K. Appel Foundation/ VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Es war fast ein Zufall, dass ich im Museum für Moderne Kunst der Stadt Paris stand und sofort Ihre Bilder sah. Ich werde diese Erfahrung nie vergessen und muß Ihnen sagen, dass mich noch nie eine Ausstellung so fasziniert hat. Ich ging immer und immer wieder hin und her, um das eine oder andere Gemälde nochmals zu betrachten. Ich beschloss noch in dieser Ausstellung meine Sammlung zu erweitern und einige Ihrer Werke, lieber Herr Alechinsky, zu erwerben, was zu Beginn nicht einfach war. […] In Ihren Bildern, die in meiner Sammlung dominieren, entdeckte ich vor allem all die mysteriösen Figuren und „Gilles“-Gestalten, die mir schon in meiner Kindheit, in den böhmischen Bergen, in denen ich aufgewachsen bin, begegnet waren. Damals erschienen sie mir plötzlich auf dem Schulweg und verschwanden wieder. Genau dies geschieht wenn ich ihre Bilder betrachte. Plötzlich ist da etwas, was ich noch nicht gesehen habe und wenn ich es suche, ist es wieder verschwunden.“
(Aus einem Brief Peter Selinkas an Pierre Alechinsky vom 28.11.1978)
Situation sans illusion, 1959-61. Pierre Alechinsky. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Zu diesem Bild sind folgende Gedanken des Künstlers erhalten:
„Delacroix war der Ansicht, daß allein der den Namen Maler verdient, dem es gelingt, den Fall eines Menschen in der Zeit dieses Falls zu zeichnen. Heutzutage sind die Gemüter wirklich zu kühl, um sich vorzunehmen, so viel und so wenig zu erreichen. […] Ich begnüge mich mit einem Fall ohne Gegenstand, mache ihn zum einzigen Gegenstand. Der freie Fall! Mehr als der Fall von nichts zu nichts. Gestauter Sturz.“ Pierre Alechinsky, Notizen, zitiert nach: COBRA – Ausstellungskatalog Städt. Kornhaus Weingarten, 1978, S. 24)
Pierre Alechinsky war der Sohn eines russischen Juden und hatte die letzten drei Jahre des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling in Südfrankreich gelebt. Seine Bilder entstehen auf dem Boden, sie setzen sich zusammen aus spontaner Malerei, asiatischer Kalligraphie und aus Comicstrips. Alechinsky ist ein Geschichtenerzähler, dessen Werk sich bis heute jeder Kategorisierung entzieht.
Auch Peter Selinka suchte immer Geschichten in den Bildern, sein erster COBRA-Kauf war Alechinskys „Une situation sans illusion“.
Eine COBRA-Gruppe, 1964. Jorn, Asger. © Donation Jorn, Silkeborg / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Der Kauf von COBRA-Gemälden glich einer Pioniertat. Auch hier folgte Peter Selinka wieder seinem untrüglichen Gespür und trug in wenigen Jahren eine beeindruckende COBRA-Sammlung zusammen, deren antibürgerliche, antiästhetische und rebellische Ansätze noch heute die Gemüter bewegen. Meisterwerke wie Asger Jorns „Eine COBRA-Gruppe“ aus dem Jahr 1964 sind heute entweder im Kunstmuseum Ravensburg ausgestellt oder gehören zu den begehrten Leihgaben im In- und Ausland.
Erst 13 Jahre nach der Auflösung der COBRA malte der Däne Asger Jorn posthum das Gruppenbild der Künstlergruppe. Es zeigt fünf Gestalten vor blauem Hintergrund, die als tierisch-menschliche Mischwesen den Betrachter anstarren, als wollten sie das Instinktive und Unbewusste in uns freisetzen.
Die Malerei, sie ist vorbei. Lieber gleich den Gnadenstoß geben. Zweckentfremdet. Es lebe die Malerei“. Asger Jorn
Asger Jorn (1914-1973) zählt heute zu den einflussreichsten und vielgestaltigsten europäischen Künstlern des 20. Jahrhunderts.
Animal fantastique, 1978. Appel, Karel. © K. Appel Foundation/ VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Als Peter Selinka COBRA-Kunst zu sammeln begann, gab es in Deutschland noch keinen Markt für diese Kunst, also erfolgten die Ankäufe fast ausschließlich über die Niederlande. Im Mai 1978 schickte die Amsterdamer Galerie Krikhaar eine Rechnung zu Peter Selinka nach Ravensburg, die den Kauf von Karel Appels „Animal fantastique“ quittierte.
Diese Holzskulptur des Niederländischen COBRA-Künstlers Karel Appel wird heute auch als Sympathiefigur für die Kunstvermittlung im Kunstmuseum genutzt. Kinder lernen die Sammlung Selinka über die Handpuppe des Animal fantastique kennen.
Bei der Betrachtung von Werken der COBRA-Künstler kommt es selten zum AHA-Erlebnis, sondern ausgehend von den Kunstwerken sollen Prozesse ausgelöst werden, in deren Mittelpunkt die Bildschöpfung steht und deren Ergebnis offen bleibt. Peter Selinka kaufte Kunstwerke, um Kraft zu schöpfen für den Alltag. So waren für ihn Ausdruck und Farbe immer elementar. COBRA war die Antwort oder Weiterführung auf den Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts. So klingt es heute nur logisch, dass Selinka seine Expressionismus-Sammlung um COBRA-Werke erweiterte und die erste COBRA-Ausstellung überhaupt nach Deutschland brachte. Doch Selinka war damals ein Visionär und Vorreiter.
2 / aus: Karlheinz Schmid: Aktien, die aus dem Rahmen fallen, im Stern-Journal 09/1987