SPUR

Im Jahr 1957 begann die Freundschaft des COBRA-Künstlers Asger Jorn mit dem Galeristen Otto van de Loo. Ein Jahr später hatte van de Loo in München seine Galerie eröffnet und dort 1958 dem dänischen Künstler seine erste Einzelausstellung in Deutschland ermöglicht. Im selben Jahr und in derselben Stadt kam es zu einer weiteren folgenreichen Begegnung. Die neu gegründete Künstlergruppe SPUR hatte ihr 1. Manifest veröffentlicht, ihre Werke waren im Schwabinger Kunstzelt ausgestellt und dort dem Dänen Asger Jorn aufgefallen. Asger Jorn empfahl diese „Münchener Wilden“ seinem Galeristen van de Loo und dieser organisierte 1959 die erste Ausstellung der SPUR in München.

Peter Selinka war als COBRA-Sammler regelmäßiger Besucher bei der Galerie van de Loo in München und wurde dort auch auf die Kunst der SPUR aufmerksam.
Die bayerische SPUR bestand aus jungen Absolventen der Münchener Kunstakademie, die mit anarchistischem Elan gegen die akademische Enge in München opponierten. Die Maler Heimrad Prem, Helmut Sturm, HP Zimmer und der Bildhauer Lothar Fischer traten kämpferisch auf, ihr Spielfeld war das Experiment und ihr Anknüpfungspunkt war die Kunst des Expressionismus.

Rückblickend erzählte der Maler HP Zimmer:

„Die SPUR bestand im Grunde genommen aus Bürgersöhnchen aus guter Familie. Bis auf Prem hatten wir alle Abitur, politisch interessiert waren wir kaum. Außerdem wußten wir ja alle: da ist die DDR, das ist der reale Marxismus – was hätten wir mit Kommunismus zu tun haben wollen? Mein Vater war CDU-Wähler, Sturms Vater auch, vielleicht hätte ich, wenn damals ne politische Debatte gelaufen wäre, gesagt: ich bin für die SPD. Aber wir waren ja politisch überhaupt noch nicht erzogen. Niemand von uns hatte Marx gelesen. „Militante Diktatur des Geistes“ war ein Satz von Prem, sein großes Vorbild war Dschingis Khan. Da gab es so einen Film mit den wilden Reitern des Ostens, da ist er zehnmal reingegangen.“

((zitiert GRUPPE SPUR, Kat. Galerie Schübbe 1991, S. S. 55)

Obere Zehntausend, 1959. HP ZIMMER. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Die Punkte 8-11 des Manifests lesen sich so:

  • 8. Kunst ist ein dröhnender Gongschlag, sein Nachklang ist das Geschrei der Epigonen, das im leeren Raum verhallt. Die Übertragung ins Technische tötet die künstlerische Potenz.
  • 9. Kunst hat mit Wahrheit nichts zu tun. Was Wahre liegt zwischen den Dingen. Wer objektiv sein will, ist einseitig, wer einseitig ist, ist pedantisch und langweilig.
  • 10. Wir sind umfassend.
  • 11. Es ist alles vorbei, die müde Generation, die zornige. Jetzt ist die kitschige Generation an der Reihe. WIR FORDERN DEN KITSCH, DEN DRECK, DEN URSCHLAMM, DIE WÜSTE. Die Kunst ist der Misthaufen, auf dem der Kitsch wächst. Kitsch ist die Tochter der Kunst, die Tochter ist jung und duftet, die Mutter ist ein uraltes stinkendes Weib. Wir wollen nur eins: Den Kitsch verbreiten.

(Auszug Gruppe SPUR „Erstes Manifest, 1958)

In ihrem drei Jahre später veröffentlichten sog. „Gaudi-Manifest“ formulierten die SPUR-Künstler weitere 20 Thesen wie:

  • Wer in Politik, Staat, Kirche, Wirtschaft, Militär, Parteien, soz. Organisationen keine Gaudi sieht, hat mit uns nichts zu tun.
  • Boykottiert alle herrschenden Systeme und Konventionen, indem ihr sie nur als mißratene Gaudi betrachtet.
    […]
  • 18. Wir fordern allen Ernstes die Gaudi. Wir fordern die urbanistische Gaudi, die unitäre, totale, reale, imaginäre, sexuelle, irrationale, integrale, militärische, politische, psychologische, philosophische … Gaudi.
    […]
  • 20. Wir engagieren die ganze Welt für unsere Gaudi.

(Auszug Gruppe SPUR, Januar-Manifest, 1961)

Die SPUR-Künstler hatten außerdem Künstlerzeitschriften heraus gegeben, bis die Münchener Staatsanwaltschaft im November 1961 dem ein jähes Ende setzte und alle noch greifbaren Exemplare der SPUR-Zeitschriften  Nr. 1 bis  Nr. 6 durch das Sittendezernat beschlagnahmen ließ wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften und Gotteslästerung“. Die SPUR hat weder einen homogenen Gruppenstil entwickelt noch sich einem Dogma unterstellt.  „Bei SPUR herrschte – und dies wird aus dem zeitlichen Abstand heraus klar ersichtlich – ein über die individuelle Bildsprache hinausgreifendes gemeinsames Formen- und Arbeitsverständnis, das den Einzelnen in seinem Wirken jedoch keineswegs behinderte.“ (Pia Dornacher, in: Danzker,  Dornacher (Hg.): Gruppe SPUR, 2006, S. 37)

Die Gruppe selbst erklärte ihren künstlerischen Ansatz, der auch als „Facetten-Stil“ bezeichnet wird, in einem Ausstellungskatalog Otto van de Loos:

„Unsere Figuren entstehen assoziativ aus der Übereinanderschichtung von Linien, alten Figuren und alten Räumen; Farbgruppen wechseln ab mit Raumschichten und neuen Form-Knäueln; Relikte aus früheren Schichten tauchen auf …“ (Gruppe SPUR, 1958-1965: Eine Dokumentation, München 1979, S. 77 f)

Gestreiftes Dorf, 1963. Prem, Heimrad. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Zuckerinsel, 1963. Prem, Heimrad. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Peter Selinkas erster SPUR-Kauf war das Gemälde „Gestreiftes Dorf“ von Heimrad Prem aus dem Jahr 1963. Das in horizontalen Schichten angelegte Gemälde mit seinen eingeritzten Zeichen erinnert „in ihrer Traumverlorenheit an Klees Bildwelt. Ausdruck entsteht hier nicht aus gestischer Bewegung oder dem eigentlichen Malprozess selbst, sondern resultiert aus der Sichtbarmachung von Schichten und Spuren …“  (zit. nach: Keiner, Kräubig in Peter und Gudrun Selinka-Stiftung, 2004).

Der Sammler Peter Selinka kaufte dieses Bild, weil ihn die dargestellte Landschaft mit ihren kleinen Häusern an seine Kindheit im Riesengebirge erinnerte. Wieder war es die eigene Biographie, die ihn zum Kunstkauf drängte. Selinka interessierte sich weniger für das gesellschaftspolitische Auftreten jener Künstler, sondern er zollte ihrem Anspruch auf künstlerische Unabhängigkeit Respekt. Er nahm seine Aufgabe als Sammler ernst, was für ihn bedeutete, dass er den Künstlern durch seine Ankäufe auch stets finanziellen Freiraum verschaffte. Peter Selinka gab Künstlern seines Vertrauens auch immer wieder Vorschüsse, er war ein mäzenatischer Sammler.

Mit den ca. 30 Arbeiten der Künstlergruppe SPUR schließt sich in der Sammlung Selinka die Klammer expressiver Kunstwerke, deren unbändiger Freiheitsdrang mit den Expressionisten eingeläutet, von den COBRA-Künstlern aufgegriffen und von der Künstlergruppe SPUR bis zum Exzess betrieben wurde.

Mit dem Bildhauer Lothar Fischer stand das Sammlerpaar Selinka auch persönlich in engem Kontakt. Sein Werk ist in der Sammlung der Künstlergruppe SPUR am umfangreichsten vertreten. Über das zwischenmenschliche Klima der SPUR-Jahre (1957-1965)  erinnerte sich Lothar Fischer rückblickend:

„Untereinander haben wir uns in der SPUR alles gesagt, wenn wir etwas gut fanden und wenn wir etwas nicht gut fanden. Das ist etwas, das ich sehr vermisse und von der SPUR her gewöhnt bin, dass man offen lobt und offen tadelt.“

(Fischer, zit. nach Galerie Christa Schübbe (Hg.), Gruppe SPUR 1958-1965, 2003, S. 98)

„Das Motiv, die mich bewegende und antreibende Kraft zu meiner Arbeit ist immer der Einfall, die Erfindung und Realisierung einer Figur im Dialog mit dem Material. Lust ist dabei eine wesentliche Triebfeder, Freude an immer wieder neuen Formulierungen des plastischen Gebildes. Es entsteht dabei eine ‚Kunstfigur‘ als Sinnbild des Menschen.“

(Lothar Fischer: Zur Kunst aus bildnerischer Sicht, 2. Aufl. 2004, S. 147)

Salome II, 1961. Fischer, Lothar. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

3 / aus: Karin Walz: Kunstsammler in Stuttgart und Baden-Württemberg (4): Peter Selinka, Ravensburg; in: Stuttgarter Zeitung 09.08.1990